Kontaktsperre und was dann? Zur Wiedergewinnung des demokratischen Diskurses

Hier möchte ich in der aktuellen Corona-Lockdown – und nun wieder Lockerungs-Diskussion – diesen offenen Brief veröffentlichen. Eine umfassende Digitalisierung scheint ja für viele der Ausweg zu sein, um sich endlich „adäquat social distanced“ verhalten zu können: Schulunterricht kann doch ohne Probleme in die heimische Küche verlagert werden, Teamsitzungen, Besprechungen, Seminare und Fortbildungen gehen doch auch online, per zoom, moodle und wie die ganzen Plattformen heißen.

Nein, dies sind alles rudimentäre, sehr ungenügende Wege des Austauschs, bisweilen geeignet für einfache sachliche Klärungen oder Visualisierungen von Vorträgen. Gruppendynamische Prozesse, emotionale Betroffenheit, echter Diskurs kann hier kaum stattfinden: soziales Lernen, emotionale Tiefe, spontane Rückmeldungen (die meisten Pädagogen wissen, daß diese Komponeneten erst die Verankerung der Inhalte zur Voraussetzung haben), finden im home- oder Küchen-Office kaum statt. In den Plattformen der Videokonferenzen hat der Moderator den Button „Alle stummschalten“, so daß er selbst ohne Interferenzen sprechen kann. Das wünscht sich sicher der eine oder andere Lehrer in seiner Schulklasse auch. Endlich können ungeliebte Störungen beseitigt werden. So üben wir uns ein in gelingende top-down-Dialoge. Gerade weil die Digitalisierung nun als Lichtstreif am Horizont in Pandemie-Zeiten immer heller erscheint, mache ich mir erhebliche Sorgen um die Zukunft der Post-Corona-Gesellschaft:

Kontaktsperre und was dann?

Zur Wiedergewinnung des demokratischen Diskurses

Offener Brief

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel,
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Dr. Markus Söder,
Sehr geehrter Herr Gesundheitsminister Jens Spahn,

unsere Gesellschaft wird seit den Wochen der Corona-Pandemie von Angst geprägt. Angst vor Ansteckung, vor der Gefahr einer Erkrankung seiner Nächsten, der 80-jährigen Oma, des herzerkrankten Onkels. Diese Angst erleben wir teils als gerechtfertigt, teils aber auch durch die vieleneinschneidenden Maßnahmen der Regierung und deren öffentliche Verstärkung durch viele Medien ins absurd Maßlose verstärkt. 

Ja, diese Pandemie braucht Maßnahmen für den Schutz der Bevölkerung und der vielen Menschen, die sich in der Pflege und ärztlichen Betreuung in hohem Maße engagieren. 

Wir erleben eine derart tiefe Aushöhlung unseres Grundgesetzes mit Notstandsverordnungen, die – nicht nur unserer Meinung nach – über den Auslegungsspielraum des Infektionsschutzgesetzes zu weit hinausreichen.

Der Eingriff in die Grundrechte der Bürger, das Außer-Kraft-Setzen verschiedener Grundgesetzartikel, wie der Religions-, Berufs-, Versammlungs- oder Reisefreiheit erleben wir als unverhältnismäßig.*

Sie als politisch gewählte Entscheider haben nahezu sämtliche Maßnahmenabwägung an Virologen (und speziell an das Robert-Koch-Institut) verlagert.  

Wir befürchten eine Autoritätsverlagerung von Mitsprache und demokratischer Teilhabe auf wenige Entscheider innerhalb der Regierung. Wir warnen davor, dass sich dies als Modell für zukünftige gesellschaftliche Prozesse etablieren könnte. Unsere Zivilgesellschaft droht ihre Pluralität und Vielfalt zu verlieren. 

Wir erleben eine durch die Regierung und Medien geförderte, als Schutz formulierte, Einschüchterung  der Bevölkerung, die sich leider nicht nur in wohlwollender Nachbarschaftshilfe, sondern auch in Aggressivität (im Supermarkt, im Park) gegenüber Menschen ausdrückt, die vermeintlich kurz den 2m-Abstand unterschreiten oder eine abweichende Haltung haben. 

Wir befürchten, dass sich hier mittelfristig aus Nächstenliebe „Nächstendistanz“ entwickeln könnte, was bei länger anhaltender Kontaktbeschränkung und alarmierender Gebote sich als Misstrauen sehr tief in die Haltung und Herzen der Menschen eingraben könnte. „Social distancing“ für mehrere Monate trennt nicht nur Räume, sondern auch die Seelen.

Wir erleben eine nahezu ausschließliche Orientierung an den Grenzbelastungen unseres Gesundheitssystems, die vom Worst-Case-Szenario ausgeht. Aus vielen Experteneinschätzungen wird klar, dass alle mathematischen Hochrechnungen bei genauerer Betrachtung mehr Fragen als Antworten aufwerfen und auch Virologen wissen, dass sie vieles nicht wissen. Noch nie in den letzten 70 Jahren wurde bei annähernd umstrittenen Bedrohungslagen (durch Klimawandel, Armutsrisiko, Rüstungsexport, militärische Einsätze und andere) eine Planung vom Worst-Case-Szenario ausgehend vorgenommen. 

Wir befürchten, dass andere Konzepte des Schutzes (wie das des hochdemokratischen Schweden) in ihrer Bedeutung nicht ausreichend einbezogen werden und wir weniger demokratische Konzepte adaptieren. Das könnte in Zeiten, in denen das “Autoritäre“ (nationalistische Tendenzen) schon vor Corona viel Platz eingenommen hatte, unsere Post-Corona-Gesellschaft tief prägen. 

Wir erleben auch, dass die Diskussion und Veröffentlichung anderer Denkweisen schnell ins unverantwortliche, egoistische oder sogar ins verschwörungstheoretische gedrängt wird.  

Wir befürchten eine noch deutlichere Spaltung der Gesellschaft, die sich bereits in den letzten Jahren etablierte. In Krisen muss akut gehandelt werden, aber wir dürfen die mittel- und langfristigen Auswirkungen nicht außer Acht lassen. Die Schattenseiten dieses Groß-Experiments werden zwar bisweilen geäußert, führen bisher aber in keiner Weise zur Reduktion von Angst, zur Stärkung des Vertrauens und auch nicht zur Kursänderung in der Maßnahmenbewertung. 

Wir fordern Sie explizit auf, die Maßnahmen in Zeiten von Corona auf das ausbalancierte Maß von Schutz und Sicherheit der Menschen einerseits und Freiheit, Selbstbestimmung, Existenzsicherung und Grundgesetzkonformität andererseits, wieder zu regulieren. In die Maßnahmenbewertungen sollten neue Studien unter Berücksichtigung von Experten anderer Wissenschaftsdisziplinen einfließen.

* Auch Hans-Jürgen Papier, von April 2002 bis März 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat sich zu dieser Sorge eindeutig geäußert.

Zur Relativität und Ungenauigkeit der bisherigen zahlenmäßigen Hochrechnungen der Virologen Dr. Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie, Bonn, und Christian Drosten, Leiter der Virologie der Charite, Berlin.

Mehrere Verfassungsbeschwerden zur Überprüfung der Grundgesetzkonformität der Maßnahmen liegen derzeit beim Bundesverfassungsgericht.

 11. April 2020

Verfasst von:

Norbert Scholz, Karlstadt,
Jasmin Berthold, Arnstein,
Robert Hensel, Arnstein

Weitere UnterzeichnerInnen, Stand 16.04.2020

Lucia Bühler-Scholz, Karlstadt
Judith Säger, Berlin
Alexander Bühler, Lohr
Dr. Amadeus Braunewell, Veitshöcheim
Hanna Luna Braunewell, Würzburg
Eva Reffel, Veitshöchheim
Bettina Klein, Karlstadt
Dr.med. Nicole Annette Morper, Pfinztal
Silvia Körbel, Berlin
Jonas Züll, Arnstein
Janosch Bühler, Aachen
Luisa Elbert, Aachen
Stefan Frey, Wetzlar
Markus Edlevson, Berlin
Lara Scholz, Berlin
Prabha Niggl, Hübenthal
Monika Fell-Hagen, Würzburg
Eberhard Langer, Stuttgart
Stefan Rümmele, Osnabrück
Dr. Annette Rümmele, Osnabrück
Birgit Graber-McCrae, Mannheim
Andreas Graber, Mannheim
Annette Trub, Heidelberg
Josef Opladen, Köln
Dr. Marion Schwermer, Bonn
Edith Lange, Bad Neustadt
Dr. Magdalena Eder, Karlstadt
Wolfgang Merklein, Karlstadt

Norbert Scholz, Josef-Zöller-Str. 10, 97753 Karlstadt

Schreibe einen Kommentar

Menü schließen