Utopien sind nichts für Pragmatiker. Wieso sich mit fernen Visionen beschäftigen, wenn einem die täglichen Anforderungen genug Kraft erfordern. Aber eben diese Kraft können für viele auch Utopien erwecken. Leitbilder, Zukunftsvisionen, Ideale, die Energie mobilisieren.

Ernüchternd, traumabtötend erlebe ich in dieser gesellschaftlichen Phase, die uns nicht nur, aber auch im Zuge der Digitalisierung umfasst, dass sich Utopien für wohl lange Zeit vor allem technisch zu manifestieren scheinen. Nicht das kommunikative Miteinander zwischen Menschen hat Konjunktur, sondern die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine mit dem Blick auf den isolierten Monitor. Wieviel unserer Kommunikation fließt heute schon in die digitalen Errungenschaften, die uns gefühlt aufgezwungen sind: die neue Software im Betrieb, der aufgehängte PC nach dem 73ten Update, die Hotline, die uns im Kreis schwindelig dreht… und die so häufig nicht funktionieren.

Und gleichzeitig versuchen sich nicht wenige Autoren (s.u.) in aktuellen Büchern auf das Positive der Digitalisierung zu fokussieren.

Unser deutscher Mode-Philosoph Richard David Precht entwickelt aus einer hervorragenden Analyse der digitalen Wirkmächtigkeiten die Utopie der Marxˋschen Anthropologie in seinem Buch: “Hirten, Jäger, Kritiker“: der Abbau von geschätzten 50% aller Arbeitsplätze in den nächsten Jahren eröffnet uns ganz viel neue Zeit. In diesem gewonnenen Zeitenraum werden wir endlich zu philosophierenden Freigeistern und werden „morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben und nach dem Essen kritisieren“. Ermöglicht wird das durch das bedingungslose Grundeinkommen, das Precht als zwangsläufige Notwendigkeit einschätzt, um die Freisetzung vieler Arbeitskräfte zu kompensieren.

Die etwas düstereren dystopischen Prognosen erscheinen mir da realistischer: eine steigende Menge an Menschen arbeitet vielleicht nicht mehr soviel und ausschließlich für Geld, ist in der gewonnenen Zeit jedoch ständig dabei, unsere „extrem digitalisierte Umgebung“ zu kontrollieren, Gerätschaften upzudaten , Passcodes zu sortieren. Genauso wie wir bereit sind, das Billy-Regal von Ikea daheim selbst zusammenzubauen, unsere Fritzbox mit NAS-Festplatte und wlan zu installieren und zu optimieren.  In weiterer freier Zeit, werden sich nicht wenige der xten Spielegeneration an Xbox und PlayStation hingeben.

Als Coach dürfte ich schon vor 15 Jahren Manager einer Firma begleiten, die sich mit elektronischen Sonnenbeschattungssystemen beschäftigte. Im Firmensitz frisch installiert, während Mensch gesprächsbereit im Raum sitzt, ziehen sich aufgrund einer Wolke die Rollläden automatisch hoch und das Licht springt an. Gerade haben sich die Augen an diese neuen optischen Verhältnisse gewöhnt, zieht die Wolke weiter, die Sonne kommt durch,…und… die Rollläden ziehen sich zu und das Gespräch setzt sich im Dunkeln fort. Der Produktentwickler hätte liebend gerne die elektronische Steuerung gegen eine manuelle Bedienung der Rollläden eingetauscht, was uns etliche Minuten Zeit für das Gespräch geschenkt hätte.

Ich frage mich massiv, für wen diese Vision einer Technik-Welt , die Utopie eines komplett automatisierten Lebens, reizvoll ist: von Smarthomes, wenn der Toaster schon vor dem Betreten der Küche morgens zwei Scheiben ausspuckt, oder die Heerscharen von autonomen Autos in möglichst standardisierten Straßenräumen, alle funkgesteuert immer Google fragend, ob sie links über die vierspurige Straße oder rechts durch die kleineren Gassen fahren können. Vielleicht für diejenigen, deren Ideale in der Kindheit nicht Winnetou, sondern Mr. Spock waren.

Meine Utopie in unserer Digital-Welt

Wir drehen das Rad nicht rückwärts, aber frieren den Stand unserer aktuellen digitalen Entwicklung ein. Alle digitale Energie geht nicht in die permanente Weiterentwicklung, sondern in die Demokratisierung des Erreichten, in die Handhabbarmachung unserer Systeme ohne permanent neue, unsinnige Features daraufzusetzen, in die Bildung unserer Kinder und das Auffangen der Digitalsüchtigen, um das wahre Leben außerhalb von Monitoren und Virtual- Reality-Brillen wahrzunehmen. Das wäre ja nun eine wirkliche Weiterentwicklung, für die ich großen Bedarf sehe.

Ethikräte, die mit Geistes- und IT-Wissenschaftlern besetzt sind, kontrollieren jede neue Erfindung und – im Sinne eines „digitalen Kartellamtes“ – entscheiden, ob sie der Menschheit dient oder nur den Entwicklern. Sicher, das hätte weniger mit Marktwirtschaft zu tun.

Schulen, aber auch Betriebe, lassen ihre digitalen Veränderungensideen nicht von Informatikern gestalten, sondern von sozial-psychologisch-philosophisch ausgebildeten Ethikverantwortlichen, die jede mögliche Neuerung einer ausführlichen sozial-kompatiblen Überprüfung unterziehen. Derartige Prozesse würden eine digitale Entschleunigung provozieren, die aus meiner und aus der vermuteten Sicht einer Bevlölkerungsmehrheit dringend erforderlich wäre.

Nicht Entdigitalisierung als Utopie, aber als von realen – digitalkompetenten, wie digital inkompetenten Menschen – gesteuerte Entschleunigung: Bedenken first- digital second.

Wie könnten wir es schaffen, dass zunächst der Rahmen und möglichst viele Konsequenzen öffentlich und kollektiv durchdacht werden, bevor mit immensen Summen gefördert, neue Technik-Features irgendwo Einzug halten?

Nicht der kapitalistische Mehrwert bestimmt das Tempo, sondern der demokratische Diskurs: das aktuell zu versteigernde 5G-Mobilfunknetz wird schnell für Milliarden vérsteigert, bevor wir in reflektierter Form Nutzen und Risiken abwägen können. (Das wird dann – wie bei der Atomkraft – Jahrzehnte später geschehen.)

Die aktuelleBeschleunigung in dieser Form stresst und frisst den Menschen. Sie produziert Gewinner und mindestens soviele Verlierer, die weniger technisch affin ihre Leben verstehen. Die werden aussortiert, in gesellschaftliche Nischen verschoben (in funkturmfreie gallische Dörfer) oder wenn sie labilere Persönlichkeiten sind, in die Psychiatrie. Ich bin überzeugt, 80% der Bevölkerung würden eine weitere Digitalisiérung, wenn sie die Konsequenzen reflektieren, sehr kritisch sehen.

In meiner Utopie findet sich auch eine parteipolitische Strömung, die sich deutlicher und kritischer mit den Entwicklungen auseinandersetzt. Auf politischer Ebene wird bisher um kleine Korrekturen gerungen, kosmetische Anpassungen, um „Uploadfilter“, um ein „Netzwerkdurchsetzungs- Gesetz“, und ähnliches. Hier nehme ich keine bis sehr geringe Wehrhaftigkeit im demokratischen Sinne wahr, wahrscheinlich, weil auch die digitale Kompetenz dort fehlt und die Informationen, bunt-virtuell ausgestaltet, vor allem von euphorisierten Digital-Entwicklern geliefert werden.

Über gesellschaftliche Utopien wird sonst noch eher in Romanen reflektiert. Hier verweise ich auf den erst in 2017 veröffentlichten, leider auch ins Absurde abdriftenden 1000-Seiten-Roman von Frank Schätzing, „Die Tyrannei des Schmetterlings“ an, der wohl eindeutig in die Kategorie des dystopischen einzuordnen ist.

EU-Digital-Grundrechte-Charta – eine demokratische Hoffnung

Eine demokratische hoffnungsvolle Errungenschaft könnte die EU-Charta für die Grundrechte in der Digitalen Zeit werden. Von 14 Juristen und Fachleuten entwickelt, seit 2 Jahren immer wieder überarbeitet, scheint mir dieser Entwurf bisher der größte und umfassendste, um dem Digital-Wettlauf einen Rahmen zu setzen. Wie nicht anders zu erwarten, ist diese Digital-Charta höchst umstritten, auch wenn das Ziel, sie vom Europäischen Parlament verabschieden zu lassen, sicher noch in weiter Ferne ist.

https://de.wikipedia.org/wiki/Charta_der_Digitalen_Grundrechte_der_Europ%C3%A4ischen_Union

https://digitalcharta.eu/

Das bedingungslose Grundeinkommen?

Als positive Utopie wird landauf/landab das „bedingungslose Grundeinkommen“ genannt und diskutiert. Es soll eine Antwort auf eine prognostizierten Reduktion von Arbeitskräften sein, die durch die digitale Revolution überflüssig werden.Bis zu 50% aller Arbeit, die bisher noch von Menschen erledigt werden, werden diesen Prognosen (immerhin auch des Weltwirtschaftsforums) nach, überflüssig werden, weil sie von sich vernetzenden Maschinen und Robotern übernommen werden. Manchen erscheint sie geradezu als DIE Lösung. Nachdem sich die EU bisher nicht auf eine adäquate Besteuerung der großen Digitalkonzerne einigen konnte, frage ich mich, wie von denen soviele Steuern eingetrieben werden können sollen, um dieses Grundeinkommen zu finanzieren. Das wäre das wirkliche Ende des globalisierten Kapitalismus.

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